Als vor über einer Woche die grossen Schneemassen kamen, da fragte sich manch einer: «Wann hatte es das schon einmal gegeben?!»
Nun – wir Rotarier wissen es, zumindest diejenigen, die an jenem legendären Samstag (genauer: am 5. März im Jahre des Herrn 2006) in einem von Ernst Haas organisierten Bus gen Basel gefahren waren.
Wie ist es damals dazu gekommen, was genau hatte sich an diesem sagenhaften Wochenende ereignet? Ein Blick zurück in die Annalen der Clubgeschichte gibt Aufschluss.
Der Rotary Club mit dem einzigartigen Namen einer Insel (der grössten in der Schweiz) war noch jung zu jener Zeit. Er war vor ein paar Jahren gegründet worden, und die Mitglieder – aus verschiedensten Berufen zusammengewürfelt – kannten sich inzwischen recht gut. Man gab sich Mühe mit rotarischen Gepflogenheiten und brillierte mit Präsenz – sogar an Samstagen und bei unsicherer Wetterprognose.
Die Rotarier inklusive Partner – über zwanzig an der Zahl – trafen sich um 15 Uhr auf dem Parkplatz in Wollerau zur gemeinsamen Pilgerreise an die Rheinstadt, mit dem Ziel, einer der edelsten und einzigartigsten Vorfasnachtsveranstaltungen beizuwohnen, dem sogenannten «Pfyfferli». Und dies in einem der schönsten Kellertheatern der Schweiz. Dem Fauteuil-Theater.
In der Regel ist es Normalsterblichen kaum je gegönnt, das «Pfyfferli» live zu erleben. Die rund 60 Vorstellungen, die zwischen Januar und Morgenstreich (Februar oder März) gespielt werden, sind schneller ausverkauft, als sich das Coronavirus ausbreiten kann (auch dessen Mutanten). Die Wege, wie man zu Tickets (auf Baseldeutsch «Biliée») kommt, sind verschlungen, geradezu mysteriös – und allein der Umstand, dass man Basler ist, reicht bei weitem nicht aus.
Dass Menschen der Ausserschwyz, aus den «Höfen» und der «March» - sogenannte Auswärtige (auf Baseldytsch: «Fremdi Fötzel») – sich in das Kellergeschoss am Spalenberg zwängen, sich auf einen der zweihundert purpurroten Sessel niederlassen, um dem rund zwei Stunden andauernden Spektakel (eine zuckersüsse bis sarkastisch bittere Mischung aus Theater, Comedy, Musical usw.) zu lauschen, ist demzufolge eigentlich undenkbar.
Aber solches ist vorgekommen. Mehrmals sogar. Und dies einzig deshalb, weil Rotary über ein Beziehungsnetz verfügt, das ebenso verschlungen und mysteriös ist, wie die Wege zu eben diesen Pfyfferli-Tickets.
Dass es überhaupt zu jenem Ausflug unseres Clubs nach Basel gekommen war, beruht auf äusserst seltsamen Ereignissen, die sich einige Jahre zuvor im Umfeld unseres Clubs zugetragen hatten. Ein Innerschweizer Jodler (Ernst Haas) und ein Berner Troubadour (Hansueli Rohrbach) waren – zusammen mit Ihren Frauen (Gladys und Irmgard) – auf bisher ungeklärte Weise an solche «Pfyfferli-Biliées» gekommen.
Begeistert von dem Gesehen- und Gehörten weckten sie daraufhin das Interesse befreundeter Clubmitglieder (es muss wohl auch eine Art Virus gewesen sein) und so kam es, dass in den Folgejahren immer mehr Ufenauer das «Pfyfferli» besuchten. Am Ende musste ein Busunternehmen angeheuert werden, das die vergnügte Schar ans Rheinknie chauffierte. Auf welchen verschlungenen (und mysteriösen) Wegen man zu der mittlerweile erheblichen Anzahl an Tickets gekommen war, entzieht sich auch nach längeren Recherchen meiner Kenntnis. Es bleibt eines der bestgehüteten Club-Geheimnisse und reiht sich ein in die lange Liste der ungelösten Rätsel der Menschheit – irgendwo zwischen dem Kennedy-Mord und der gewonnenen Schweizer Fussballmeisterschaft des FC Zürich.
Wie es bei Rotariern üblich war, begnügte man sich damals nicht mit dem Besuch des «Pfyfferli» allein. Der langen rotarischen Tradition folgend wurde auch gebührend getafelt. Dafür wurde eigens der denkmalgeschützte «Kaisersaal» angemietet - es fand ein Gelage statt, das – aus der heutigen Corona-Optik betrachtet – historische Dimensionen besass.
Als sich der Bus an jenem Samstag des 5. März 2006 in Wollerau in Bewegung setzte, war jedem der Reisenden klar, was ihn erwarten würde. Viele von ihnen waren «Wiederholungstäter» - die anderen hatten es sich in allen Farben erzählen lassen: zuerst etwas Shopping am Spalenberg, dann Ess- und Trinkgelage im Kaisersaal, dann «Pfyfferli» und gegen Mitternacht (Treffpunkt Lyss) wieder Einsteigen in den warmen Bus. So war es geplant gewesen. Nur Petrus und Frau Holle hatten von eben diesem Plan keine genaueren Kenntnisse.
Kurz vor Zürich begann es zu schneien. Es wurde zunehmend dunkler und der Busfahrer wurde mit der Frage konfrontiert, ob er denn Winterreifen montiert hätte. «Natürlich» war die Antwort. Beruhigend, fanden die Organisatoren, denn es war immerhin schon März. «Unsere Busse kommen vom Hirzel», meinte der Fahrer. «Da kann es bis im April noch schneien». Sehr gut. Ein erfahrener Mann.
Es schneite weiter, wobei das Verb «schneien» nur noch ganz vage beschrieb, was wettermässig von oben geliefert wurde. Es «flockte» und «leintücherte» herunter in einer Weise, wie es auch die wintererprobtesten Hirzelianer kaum je erlebt hatten. Bei Ausfahrt Zürich (die Westumfahrung gab es noch nicht) war die Sicht auf unangenehme fünf Meter geschrumpft. Schritttempo war angesagt. Weil nicht alle Verkehrsteilnehmer vom Hirzel stammten und entsprechend geschult und wintererprobt waren, stockte und staute es. «Da brauchen wir jetzt etwas länger» meinte der Fahrer und lächelte aufmunternd. «Wir müssen diesmal auf das Shopping wohl verzichten und direkt zum Essen übergehen», orientierte der Organisator via Lautsprecher. «Jänu. Könnte ja schlimmer sein», kam es von einem Sitz weit hinten.
Als der Bus die Raststätte Würenlos passierte, war man bereits über zwei Stunden unterwegs. «Wir sollten jetzt in Basel sein», murmelte der Organisator. Der Busfahrer nickte und konzentrierte sich weiter auf die Strasse.
Aus den himmlischen Leintüchern waren dicke Gipsplatten geworden. Auf dem von Schnee bedeckten Pannenstreifen stand ein Fiat Panda, der schon vom Frühling geträumt hatte.
«Gopferdellisiech» sagte einer, der des Baseldeutschen mächtig war.
«Haben Sie Schneeketten?» wurde der Chauffeur befragt.
«Brauchen wir nicht»
«Aha.»
Hätte es damals schon Google-Maps gegeben, so hätte man bereits jetzt gewusst, dass es knapp werden würde. Sehr knapp. Nicht für das Essen um 18 Uhr, sondern für die Vorstellung um 21 Uhr.
Was nun?
Damals, in einer Welt ohne Smartphones, gab es Menschen, die konnten die Zeit lesen. Viele von ihnen beherrschten sogar die vier Rechengrundoperationen und konnten einen einfachen Dreisatz aufstellen. Weil ihr Blick noch nicht aufs Handy fixiert war, sahen sie auf den Tacho des Busfahrers (30 km/h), dann aus dem Fenster (fallender, weisser Mörtel), auf die Strasse (alles Idioten), dann in den Himmel (nicht vorhanden). Sie konnten es sich ausrechnen. Es wird tatsächlich knapp.
«Sali Caroline, mir sinn no unterwäggs ... es schneit wie nid ganz bache. Es länggt ys vermuetlig nid uf die 9i».
Die Theaterdirektorin, der die Ufenauer-Truppe längst ans Herz gewachsen war, hätte mit dem Beginn der Vorstellung ohne Weiteres zugewartet. Nur eben an diesem Abend war das Fernsehen für eine Aufzeichnung vor Ort. «Mer mien am 9i aafoo, duet mer Leid. Kömmed eifach, wenn er doo sinn».
Um halb neun entschied sich die «Task Force» im Bus, bestehend aus dem Chauffeur und dem ortskundigen Organisator, bei Birsfelden die längst schneebedeckte Autobahn zu verlassen. «Vielleicht schaffen wir es auf dem Schleichweg».
Aber auf dem Schleichweg standen bereits das Tram No. 3 und zweihundert andere Schlaue mit derselben Idee. Um fünf Minuten vor Neun erreichte die Arktis-Expedition den Aeschenplatz: Es sah aus wie Arosa in einem Rekordwinter. «Wir nehmen jetzt eine Abkürzung und fahren die Freie Strasse hinunter bis zum Marktplatz», meinte der Organisator. «Die letzten Meter machen wir dann zu Fuss.»
«Aha», kam es vom Führerstand. Ein zweiter Blick auf das Navi, dann schüttelte der Fahrer den Kopf. «Da dürfen wir nicht durch ... das ist Fussgängerzone.»
«Ich weiss ... ist jetzt aber auch egal.»
Und so fuhr zum ersten Mal in Verkehrsgeschichte Basels ein mit Touristen vollbesetzter Bus (mit Zürcher Kennzeichen) durch das Allerheiligste der Innenstadt, von der Hauptpost bis vors Rathaus. Und weil die Basler Polizei traditionell nicht mit Bergschuhen und Gamaschen ausgerüstet ist, war weit und breit auch keiner von ihnen zu sehen.
Auf die übliche Frage eines Basler Schuggers* (wenn denn einer da gewesen wäre) «Was machen Sie hier?», hätte der stimmgewaltige Jodler aus Wollerau und der Berner Troubadour bestimmt eine Antwort gewusst. Vermutlich aus «Jingle Bells», zweistimmig vorgetragen:
«Dashing through the snow, we must go to the show ...»
Nach der Show, dem «Pfyfferli», zu dem man uns mit zehnminütiger Verspätung eingelassen hatte, und das so einzigartig wie das Wetter gewesen war, fuhr ein Skifahrer den Spalenberg hinunter, direkt vor unserer Nase.
Spalenberg - auch Fussgängerzone!
Auf einer von Basel bis Wollerau durchgehend schneebedeckten Autobahn fuhr der Hirzel-stämmige Busfahrer die inzwischen froh gestimmte Gesellschaft zurück. Gegen drei Uhr morgens standen die Rotarier auf dem Parkplatz. Bis jeder sein Auto ausgegraben hatte, verging nochmals eine halbe Stunde.
Und heiter, leise, rieselte weiter der Schnee.
PS: Dieses Jahr wird es kein Live-Pfyfferli geben, dafür einen Pfyfferli-Film. Dieser lässt sich ganz ohne Schnee-Abenteuer auch aus den Höfen und der March streamen. Mehr dazu hier. Und wer bereits einen Vorgeschmack auf eine dieser grandiosen Nummern haben möchte: Es singen für Euch die Covidian-Harmonists: